Geschichtsbewußtsein und Identität? Fehlanzeige!

Abseits vom Dauerbrenner Stuttgart 21 gibt es in Stuttgart noch zahlreiche andere Ärgernisse über die es sich lohnt zu berichten.

Heute wurde offiziell verkündet, dass nun ein weiteres Stück Geschichte Stuttgart weichen soll.
Das Wengerterhäusle in der Firnhaberstraße 1 im Hospitalviertel steht langweiligen Bürokomplexen im Weg.

Baubürgermeister Matthias Hahn meint dazu nur: „Wir haben keine Handhabe, den Abriss zu verhindern.“ Klar, wenn man schaut für was Hahn so steht: Investorenfreundliche Städteplanung.
Das Haus wurde 1987 unter Denkmalschutz gestellt und nach einem Gutachten von 1999 aus der Denkmalschutzliste gestrichen weil angeblich 80% nicht mehr aus dem Erbauungsjahr stamme. Klar ist ein Haus von 1455 heute nicht mehr 100% im Zustand wie damals, aber ist es deshalb weniger wertvoll für die Geschichte? Das Wengerterhäusle ist eines der wenigen Zeitzeugen aus der Besiedlung der Stadt und daher mehr als erhaltenswert!
Rein zufällig war der Gutachter für die Aberkennung des Denkmalschutzes ein Bekannter des Hausbesitzers. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Interessanter Weise ist diese Vorgehensweise immer die Selbe in der Stadt Stuttgart.
ein weiteres, aktuelles Beispiel dafür ist das alte Hotel Silber, die ehemalige Gestapo Zentrale Stuttgart. Hier wollte der Investor (Breuninger) und die Stadt Stuttgart ein weiteres großes Einkaufszentrum (DaVinci) hinstellen und dafür das Gebäude abreisen. Der Stadt kams gelegen um ein weiteres Zeugnis dieser Zeit still beseitigen zu können. So wurde versucht mit Gutachten zu argumentieren das nichts an dem heutigen Haus noch aus der NS-Zeit sei. Lediglich eine Kellertüre erinnere noch an eine der Zellen. Lächerlich wenn mann das Haus kennt. Zum Glück setzte sich hier eine große Zahl Stuttgarter Bürger für den erhalt des Hotel Silbers ein. Breuninger hat mehr oder weniger von seinen Plänen abgelassen. Das Haus bleibt stehen.

Sie kommen jeden Tag und verunstalten unsere Städte. Sie hinterlassen überall ihre idiotischen Schriftzüge. Sie machen aus der Welt einen hässlichen Ort. Wir nennen sie Werbeagenturen und Stadtplaner.
Banksy englischer Straßenkünstler

Das älteste erhaltene Haus, das „alte Steinhaus“ aus der Grabenstraße 11 von 1286 wurde zwar  im Jahr 1935 instandgesetzt, und 1936 restauriert, doch im Bombenhagel 1944 wurde es schwer beschädigt. Allerdings hielten die bis zu eineinhalb Meter dicke Steinmauern Stand und so gab es schnell aus der Bevölkerung Pläne es einer neuen Nutzung zuzuführen.
Aber auch das alte Steinhaus mußte (unter Protest!) 1953 für Parkplätze weichen. Lediglich das Portal hat im Städtischen Lapidarium überlebt.

Das Kaufhaus Schocken 1926-1928 erbaut von Erich Mendelsohn im Bauhaus Stil stand gegenüber dem Tagblatt-Turm und dem Hegelhaus.
Das Kaufhaus Schocken Stuttgart überdauerte den Krieg nahezu unbeschädigt, wurde aber 1960 von der Stadt Stuttgart unter internationalem Protest wegen einer Straßenverbreiterung zum Abriss freigegeben.
StZ: Das Kaufhaus Schocken – eine 50 Jahre alte Sünde

Die Stadt Stuttgart hat noch nie eine Beziehung für ihre Geschichte, für ihr sein, gehabt.

Diese Liste des Geschichtlichen Kahlschlages in Stuttgart ließe sich beliebig weiter führen.
Als weitere bekannte Beispiele sei das alte Rathaus Stuttgart erwähnt. Nach dem Krieg zwar in Mitleidenschaft gezogen, hätte es jedoch wiederaufgebaut werden können. Die Stadt Stuttgart wollte es schlicht nicht.

Auch zum Bau des heutigen Kopfbahnhofes mußte das Königstor am Ende der Königstraße einer breiteren Straße weichen.
Diese Handlungsweise lässt sich in Stuttgart schon sehr lange zurückverfolgen. Früher gab es um Stuttgart herum Burg Wirtemberg, Burgstall Weißenburg, Heidenburg, Burg Engelburg, Burg Freienstein, Wasserburg Berg, Burg Kaltental, und Burg Altdischingen. Allesamt wurden schon früh für Wohnhäuser abgebrochen.

Ein einziges Mal konnte man in Stuttgart auch anders.
Das „Gasthaus zu den alten drei Mohren“ sollte einer Neubebauung weichen.
Es wurde 1976 vom damaligen Standort Friedrichstraße 37 hinter dem Schloßplatz in das Bohnenviertel als Haus „drei Mohren“ in die Pfarrstraße 23 versetzt.
Es geht – wenn man will!

Woran mag es liegen das in Stuttgart kein Sinn für Geschichte besteht? Andern Ortes ist man darauf sehr stolz, doch in Stuttgart würdigt man dies nicht und empfindet es als alt und belastend.
Vielleicht liegt es einfach daran, dass Stuttgart ja relativ jung ist und keine richtig gewachsene Stadt ist. Stuttgarter waren schon immer zugezogene Bauern aus den kleinen Ortschaften rund um das Sumpfgebiet im Talkessel. Vielleicht ist daher nie eine wirkliche Identität mit der Stadt, seiner Geschichte und seiner Werte entstanden.

update 03.03.2012
Gablenberger Klaus Blog: Und wieder einmal wird der Denkmalschutz in Stuttgart mit Füßen getreten
StZ: Kommentar von Thomas Fatin: Blamage

update 11.4.2012
StZ: Mäzen will Wengerterhaus retten

update 10.07.2012:
StZ:  Wengerterhaus: Der Abriss hat begonnen

update 14.08.2012:
StZ: Wengerterhaus im Stuttgart Alle historischen Teile sind doch gerettet
Was für ein genialer Schachzug! Da macht der Mäzen mit der Abbruchfirma einen Deal und Schlußendlich sind Eigentümer, die Abbruchfirma und der Mäzen froh. Lediglich die Stadt blickt dumm aus der Wäsche! Hat sie (wieder) ein wichtiges Zeugnis ihrer Wurzeln verloren! Nicht wegen Kriegszerrstörung oder Brand. Nein, lediglich wegen der Besessenheit auf Teufel komm raus „Neues“ zu bauen. Der Stadt ist ihre eigene Geschichte, ihr Entstehen, ihre Identität absolut nicht wichtig, ja nichts wert!
Immerhin ist dieses Wengerterhaus diesmal dem Tod durch die Stadt aber elegant von der Schippe gesprungen und darf vermutlich bald wieder ein frisches Leben in Würde und Beachtung führen! Ich bin darauf gespannt und hoffe es dann auch mal besichtigen zu können!

Bilder: Internet, Eigene und Freunde

update: 07.08.2013
Wengerterhaus ist 100 Jahre älter als gedacht
Tja, liebe Stadt Stuttgart die Nummer wird immer peinlicher für euch. Jetzt wurde durch Analysen das Wengerter Häusle noch älter bewertet als bisher vom Retter angenommen. Damit hat die Stadt eine große Chance vertan etwas von ihrer Identität, ihrer Herkunft zu bewahren.
Tragisch wie immer in Stuttgart: Erst mal mit Abriss Fakten schaffen und dann steht monatelang eine Baubrache in der Gegend, anstatt sich Zeit damit zu lassen und in Ruhe über solche Sachen zu entscheiden.

2 Gedanken zu „Geschichtsbewußtsein und Identität? Fehlanzeige!

  1. Chris

    In Mannheim ist es aktuell ähnlich: Dort soll ein „historisiertes“ Haus, in der ehemals die Badische Bank, jetzige BW-Bank, abgerissen werden, um einem neuen Konsumtempel Platz zu machen. Beim Neubau in den 70ern wurde auch hier der Denkmalschutz missachtet, heute besteht das Haus nicht mehr aus der Originalsubstanz, untersteht daher nicht dem Denkmalschutz.
    In Mannheim gibt es allerdings Widerstand von der Bevölkerung bis zu den Parteien:
    http://www.morgenweb.de/nachrichten/kultur/soll-dieses-bankpalais-weichen-1.489542

    So soll es übrigens dann aussehen:
    http://www.morgenweb.de/mannheim/mannheim-stadt/angst-vor-verlust-des-bankpalais-wachst-1.467770

    Da demonstriert sogar die CDU:
    http://www.morgenweb.de/mannheim/mannheim-stadt/cdu-protest-gegen-abriss-plan-1.494145

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  2. Peter Haug

    Was soll man sagen?? Ich bin in Cannstatt geboren und aufgewachsen und habe, selbst als der 60er Jahre, nie verstanden, warum mit der Stuttgarter Geschichte so umgegangen würde und wird. Bedenkt man, daß selbst das neue Schloß bis, ich 1954, kurz davor, abgerissen zu werden, so sieht man auch hier, daß die Regierenden in Stuttgart keinerlei Verständnis für die Geschichte “ ihrer “ Stadt hatten und haben. Traurig aber wahr.

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