Wie ich den 30.09.2010, den Schwarzen Donnerstag, erlebte


Der Bürgerprotest gegen Stuttgart 21 geht in die Geschichte Deutschlands ein.
Der Protest, vielmehr die Politik, hat aber auch einen traurigen Höhepunkt geschaffen; den 30.09., den Schwarzen Donnerstag!

Dieses Datum, dieses Geschehen wird man aus den Köpfen der Stuttgarter nie wieder bringen! Es ist wohl das erschreckendste Ereignis das die Stadt nach dem zweiten Weltkrieg erlebte.
Seit diesem Tag ist der Respekt gegenüber der Polizei bei den Bürgern Stuttgarts dahin und wird auch nie wieder zurück kommen!

Leider, oder Gott sei Dank, war ich am Donnerstag den 30.09. beruflich bei einem Projekt Nähe der Borsigstraße/Ecke Heilbronner Straße B10/B27 in Stuttgart tätig.

Ich wußte zwar das Morgens eine angemeldete Schüler- und Jugenddemo statt finden würde, aber da ich im Projekt wegen Umstellung der Software zum Monatswechsel fest eingebunden war, war an einer Teilnahme gar nicht zu denken. So arbeitete ich also fleißig und hatte immer wieder einmal kurz einen Blick auf twitter um auf dem laufenden zu bleiben. (Versammlungsbescheid Schülerdemo)
Irgendwann überschlugen sich dann die Ereignisse. Berichte kamen über twitter das die Demo im Park war und Polizei in Massen auftauchte. (abrissaufstand: ALARM: GROSSEINSATZ der Polizei)
Was dann die nächsten Stunden passierte ist hinreichend bekannt und ich kann dies auch nur als Aussenstehender erzählen. Den ganzen Tag über hörte man an der Heilbronner Straße Sirenen von Polizei und Rettungskräften. Ein sehr beklemmendes Gefühl wenn man da im Büro eines Kunden sitzt, mehr oder weniger seiner eigentlichen Arbeit nachkommt und dabei die minütlich eintreffenden Nachrichten aus dem Schloßgarten las und selbst nichts machen konnte.
Ich erinnere mich das ich den Tag über wie auf Kohlen saß.
Zum einen war da ein Projekt das sauber über die Bühne gebracht werden wollte, zum anderen war da der Park, die Bäume, die vielen Verletzte die man irgendwie unterstützen mochte.

Gegen 20 Uhr
kam ich endlich vom Kunden los, zog mich schnell um und flitzte im Tiefflug mit meinem Auto in die Innenstadt.
Ich muß so gegen 21 Uhr angekommen sein. Mein Auto parkte ich in der Bahnhofsgarage, lief dann flott um den Bahnhof in den Schloßgarten. Schon auf dem Weg kamen mir verstörte, teils weinende teils verwundete entgegen. Als ich dann in den Park gelangte und die Hamburger Gitter, die Voll aufgerüsteten Polizisten und die Masse an friedlichen Menschen sah kam mir ein Schauer über den Körper den ich so zuvor noch nicht kannte. Da standen tausende von Menschen im schummrigen Licht dicht an dicht; sangen, weinten, skandierten, unterhielten sich oder schauten einfach sprachlos auf die vor ihnen aufgestellte Polizeimacht.
Die ersten Handybilder von mir sind um 21:25 Uhr dort entstanden.
Ich war allein, (er)kannte niemand und ehe ich mich versah stand ich in der ersten Reihe direkt am Hamburger Gitter, direkt Auge in Auge mit behelmten Polizisten. Es waren sehr viele junge Polizisten da. In der Gruppe vor mir waren einige Frauen dabei. Direkt vor mir eine die mir mit tränen in den Augen zublickte. Eine andere verschwand später unter lautem heulen Richtung ZOB. Es war schauerlich! Dunkel, kalt, matschig dazu immer wieder Gesang den jemand anstimmte und hunderte mitsangen: „Wehrt euch leistet Widerstand. Gegen das Milliardengrab im Land. Hällt euch fest zusammen, hällt euch fest zusammen…“

Ganz vereinzelt wollte ein wütender Demonstrant über die Hamburger Gitter, doch bevor Polizei überhaupt reagieren konnte wurde dieser wieder von anderen Demoteilnehmern zurück in die Gruppe gebracht.


„Wir sind friedlich! Was seid ihr?!“ mußten sich die Einheiten die ganze Nacht anhören. Zu Recht!
Ja, in dieser Nach sah ich etwa eine handvoll Flaschen fliegen. Jede wurde aber so geworfen das sie zu keiner Zeit einen Polizisten hätten treffen können. Und Nein, es sind auch keine Steine geflogen! Das obwohl nahe bei mir und direkt am Hamburger Gitter ein Haufen Pflastersteine von einer dortigen Flickerei der Stadt herum lag. Diese hat die ganze Nacht über niemand der Demonstranten angerührt.
Das ganze Szenario war surreal. Da ich ganz vorne Stand musste ich auch mit ansehen das Mannschaften kamen, denen der Mannschaftsführer zuerst einmal beibrachte (!) korrekt in einer Linie zu stehen etc. Man muß sich das etwa so vorstellen: Die riesige Masse an Demonstranten, ein einfacher Zaun aus Hamburger Gittern dahinter eine Reihe Schwarzer Polizeimannschaften mit angezogenen Helmen und Schlagstöcken in der Hand, dahinter eine weitere Reihe Polizeimannschaften und wiederum dahinter weitere Mannschaften die bereit standen einzugreifen. Im Hintergrund sah man auch verschiedene SEK-Teams, Leute in Anzügen und Waldarbeiter. Mit der Zeit wurde langsam das Gerät heran gebracht. Alles übrigens über den ZOB und nicht über den Vormittags freigebrügelten und freigespritzen Weg! Zuerst kamen Stromaggregate, Kleinbagger, 2 Hebebühnen und Lichtmasten in den abgesperrten Bereich.
Der erste Lichtmast wurde schnell aufgestellt und leuchtete nicht etwa das Vorhaben aus, sondern wurde so gestellt das es die Demoteilnehmer blendete. Später kam ein weiterer dazu der jeweils die zu fällenden Bäume regelrecht ins Licht zu setzen scheinte. Ich weiß noch genau was für ein Gefühl mich überkam als ich den Harvester hinter all der Polizeimasse sah. Schrecklich.

Um Mitternacht herum, also zum 1. Oktober hin hörte man dann die ersten Sägen.

Es war gespenstisch! Der ganze Park verstummte, schaute fassungslos dem Geschehen zu. Es war kein Laut zu hören. Nur das Brummen der Sägen. Erst als der erste große, ehrwürdige Baum fiel durchdrang den Park ein Schluchzen und Jaulen wie ich es bis dato noch niemals zuvor gehört hatte. Es war Mark durchdringend. Ich konnte nicht mehr dort vorne stehen bleiben und versuchte mich durch die Menschenmenge nach hinten zu drücken. Dabei kam ich an Leuten vorbei denen man es sonst nicht zugetraut hätte das diese weinen. Gestandene Männer, Menschen im Anzug, Kinder, alte Leute; allen liefen Tränen und viele Schluchzten. – Jetzt wo ich das schreibe erinnere ich mich wieder an diese Augenblicke und ich bekomme am ganzen Körper Gänsehaut und tränen in die Augen – Zu diesem Zeitpunkt schrieb ich die erste SMS an meine Eltern in dieser Nacht. Den Inhalt weiß ich noch genau:
„Mir gehts gut, es ist schrecklich, alle weinen, ich hab euch lieb!“
Als ich dann wieder auf dem befestigten Weg war lief ich direkt auf die Schillerstraße. Dort stand der Katastrophenschutz-Omnibus der Feuerwehr Stuttgart. Drinn wurden noch ein paar Demonstranten versorgt. Die Straße war komplett gesperrt und überall liefen Menschen rum. Dort traf ich auf ma_noo, einen guten Bekannten den ich von der Twitter-Bezugsgruppe (TBG) her kannte. Wir standen einige Zeit an diesem Omnibus und sprachen über das was dort in dem Park passierte. Auch sprachen wir da über die uns erreichten die Meldungen das das Eisenbahn Bundesamt (EBA) die Fällung ausdrücklich verboten haben sollte.

Gegen 2 Uhr beschloß ich übermüdet und auch fertig von den Ereignissen des Tages nachhause zu gehen. Ich lief aber nicht oben aus dem Park direkt zum Bahnhof, sondern wollte am Cafe Nil raus gehen. Am Biergarten lief ich am von uns Parkschützern errichtete Notlazarett vorbei. Weiter unten im Schloßgarten, am Cafe Nil hatte sich mittlerweile das Rote Kreuz mit Zelt aufgestellt. Allerdings nicht für die verletzten Demoteilnehmer sondern ausschließlich für eventuell verletzte Polizisten! (Demosanitäterbrief an das Ordnungsamt) Auch stand dort ein roter Feuerwehr-Wasserwerfer rum.

Jedenfalls lief ich beim Cafe Nil aus dem Park auf die Nackarstraße (Straße am Schloßgarten). Zwar war die Straße in Richtung Bahnhof gesperrt, doch ich lief unbeirrt durch die Absperrung. Die ganze Straße war links und rechts vollgeparkt mit Mannschaftsbussen der verschiedensten Einheiten herum. Hier und da waren Polizisten augenscheinlich am Pause machen. Ich ignorierte sie bzw. grüßte höflich als mal der ein oder andere etwas komisch schaute.
So kam ich unbehelligt bis zur oberen Absperrung am Südausgang des Bahnhofes. Dort lehnte ich mich sogar relaxed an das Hamburger Gitter und sprach mit ein paar Demoteilnehmern die auf der anderen Seite standen. Nach ein paar Minuten bemerkte das erst ein Polizist am Hamburger Gitter und bat mich verwundert doch bitte auf die andere Seite zu gehen da es hier für mich gesperrt sei. Naja, bis dorthin hatte es niemanden gestört. Ich lief zum Nordausgang.

Dort standen die Polizisten zwischen Hamburger Gitter und Bauzaun unterhielten sich und im Hintergrund lief ein kleines Radio! Ja kein Witz! Die waren fröhlich und verhielten sich so als ob nichts auf der anderen Seite des Bahnhofes passiert sei.
Ich erinnere mich nicht mehr wie ich heim gefahren bin oder ob ich gleich im Bett schlief oder wach lag. Keine Ahnung. Ich weiß nur diese Nacht hatte mich, hatte Stuttgart, verändert!

 

Jetzt sind es doch ein paar Zeilen geworden. Sorry wenn ihr so viel zu lesen hattet. Ich hab versucht mich zu erinnern. Jedoch war diese Nacht so surreal das ich nicht mehr alles genau nachvollziehen kann. Ich hoffe aber alles in der Richtigen Zeitfolge berichtet zu haben und euch damit einen kleinen Einblick geben konnte wie ich diesen Schwarzen Donnerstag erlebt habe.

Meine Handy-Bilder (sorry für die miese Qualität)


Eindrücke:

Einige Artikel der Weltpresse die noch online verfügbar sind:
01.10.2010:
abrissaufstand: Großdemo 1.10. „Unser Protest wird schärfer“
n-tv: „Das ist Krieg“Wasserwerfer und Pfefferspray gegen Stuttgart-21-Gegner 
n-tv: 100.000 demonstrieren gegen Stuttgart 21
All Voices: Stuttgart 21 protest turns ugly, 130 people injured – what happen?
Deseret News: Germany: Tree protest
boingboing: Stuttgart police use overwhelming force against peaceful protestors concerned about new train station
The Guardian: Protesters clash with German police over Stuttgart 21 rail project
02.10.2010:
The Sydney Morning Herald: Clashes at German demo as 50,000 rally
05.10.2010:
The New York Times: Germany Halts Demolition of Train Station

3 Gedanken zu „Wie ich den 30.09.2010, den Schwarzen Donnerstag, erlebte

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