Der Stuttgarter Mutbürger

In den Medien ist, wenn es um Protest, Aufstand oder ähnliches geht, seit vergangenem Jahr immer wieder vom Wutbürger die Rede. Mutbürger auf einer MontagsdemoDabei ist dieses Wort eine reine Wortschöpfung der Presse und wurde zuvor niemals in Bewegungen, Bündnissen etc. verwendet. Das Wort „Wutbürger“ haben wir ganz allein der deutschen Gesellschaft für Sprache (GfdS) zu verdanken die diese Wortschöpfung zum Wort des Jahres 2010 wählte.
Meiner Meinung nach ist „Wutbürger“ eher abwertend, da mit Wut meißt Zorn und negative Gefühle verbunden sind. Deshalb spreche ich in diesem Zusammenhang lieber vom Mutbürger. Es verlangt viel Courage seine Anliegen, seine Meinungen zu vertreten und sich gegen Unrecht zu wehren.

Wer ist dieser Stuttgarter Mutbürger?
Mit dieser Frage beschäftigte sich vor einem Jahr hauptsächlich die Polizei, aber auch die Bahn sowie die Presse. Sie alle standen vor einer ihnen völlig unbekannten Situation und konnten diese auch überhaupt nicht einordnen.
Bisher war die Schublade „Protest“ mit den üblichen Verdächtigen belegt: Langhaarige, bärtige, Punks, Linke, Schwarzer Block, usw.
Aber genau das macht Stuttgarts Mutbürger nicht aus! Egal ob bei Veranstaltungen, Demos, Kundgebungen oder Blockaden sind Bürger aller Couleur dabei. Von der jungen Familie die mit ihrem Kinderwagen dabei ist, über die normale Kassiererin an der Kasse bis hin zu Top Managern in ihren Anzügen oder Rentnern ist eben in Stuttgart alles zwischen 0 und 99 auf den Beinen wenn es heißt gegen Stuttgart 21 zu protestieren.

Was verändert dieser Stuttgarter Mutbürger in Deutschland?
Die Bewegung gegen Stuttgart 21 hat Stuttgart, ja hat Deutschland verändert! Es vergeht heute keine Woche in der die Presse nicht mindestens über ein Projekt irgendwo in Deutschland berichtet wo darauf hingewiesen wird das es kein Stuttgart 21 geben soll. Allein das ist es schon Wert gewesen sich zu erheben und etwas zu verändern. In Deutschland ist man wieder sensibilisiert und akzeptiert nicht mehr automatisch alles was „von oben“ herab entschieden wird. Der Bürger möchte nach 60 Jahren endlich mehr mitbestimmen! unsere heutige Demokratieform wurde damals so gewählt um Entscheidungen von „gebildeten“ Menschen machen zu lassen; um nicht mehr in ähnliche Situationen zu gelangen die zur NS-Herrschaft führten. Aus damaliger Sicht sicherlich auch gar nicht so falsch gewesen. Wir leben heute aber in einer anderen, einer aufgeklärteren Welt. Der Bürger heute kann sich sehr wohl selbst eine Meinung bilden. Er kann sich heute auf solch vielfache Weise informieren wie es damals nicht möglich war. Der Bürger ist es leid alles vorgekaut zu bekommen und nur alle X-Jahre einmal nach seiner Stimme gefragt zu werden. Er ist es leid dazwischen mehr oder weniger seine Stimme, quasi als Generalvollmacht, einer Partei in Verantwortung abzugeben. Er will zu Dingen die große Einflüße auf sein Leben, sein Tun und Handeln haben mitbestimmen! Dieses Recht fordert der Mutbürger nun ein.

Was verändert dieser Stuttgarter Mutbürger in Stuttgart?
In Stuttgart sind die Auswirkungen noch viel stärker zu spüren.
Der Stuttgarter ist unbewusst in seinen Wurzeln sehr stark vom Pietismus geprägt. Eher in sich gekehrt, verschlossen, stark in Cliquen unterwegs, ich-bezogen und eher Obrigkeitshörig, was man auch an 58 Jahren CDU-Herrschaft sehen konnte. Doch genau dieses Blatt hat sich durch die Bewegung um 180 grad gedreht. Plötzlich gibt es in der ganzen Stadt ein Wir-Gefühl, Man spricht in der Straßenbahn mit wildfremden Leuten nur weil sie den selben Button tragen, man zeigt nach außen wenn man sich freut und feiert. Das mag sich zum Beispiel für einen Kölner normal anhören, doch für Stuttgarter ist das eine ganz neue Welt. Vor allem aber haben die Stuttgarter dadurch gemerkt das man zusammen stark ist und Dinge bewegen kann. Das man seine Stadt aktiv mitgestalten kann und nicht nur Zuschauer dabei sein muß.
Über diese Bewegung haben sich „Schichten“ vermischt. Der sonst Tennis spielende Doktor hängt bei einem Event bei den Waggons ab, Der Punk hört sich im Park klassische Musik an, etc. pp. Es haben sich Interessengruppen gebildet die nun von sich gegenseitig profitieren können. Dabei geht es von den Juristen zu Stuttgart 21 über die Fotografen gegen Stuttgart 21, Christen gegen Stuttgart 21, Unternehmer gegen Stuttgart 21, Ingenieure gegen Stuttgart 21, usw. bis hin zur unabhängigen Zeitung einundzwanzig. Dieses gebündelte Know How macht uns jetzt in der Bewegung gegen Stuttgart 21 stark und wird aber auch nach der Beerdigung des Wahnsinnsprojektes noch lange weiterbestehen und viel im Sinne einer Bürgerstadt bewegen. Kleine, erste Veränderungen sind heute schon zu sehen. unter anderem gibt es nun erstmals einen Bürgerhaushalt.

Außerdem glaube ich, ist die Bewegung gegen Stuttgart 21 die erste Bürgerbewegung über die schon während ihres schaffens in Museen dazu eifrig gesammelt und dokumentiert wird.

Auch was den Umfang und Beharrlichkeit der Bewegung anbelangt werden und wurden neue Maßstäbe gesetzt: die längste dauerbesetzte Mahnwache Deutschlands, über 80 Montagsdemonstrationen, Widerstand im Web 2.0 etabliert, etc…

Ja der Stuttgarter hat und zeigt Mut!
So gesehen ist er tatsächlich ein wahrer Mutbürger!

Ein Gedanke zu „Der Stuttgarter Mutbürger

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